Zum Tod von Dr. phil. Annemarie Buchholz - Kaiser (12.10.1939 - 21.05.2014)
Meine Schwester Annemarie Buchholz - Kaiser wurde am 31. Mai 2014 auf dem Dorffriedhof von Dussnang TG nach katholischem Ritus in der Erde bestattet. Im anschliessenden Trauergottesdienst in der katholischen Kirche wurde ihr Lebenslauf in zwei Teilen vorgetragen: ich befasste mich zuerst mit ihrer Jugendzeit und dem schulischen Werdegang; anschliessend sprachen zwei ihr nahestehende Personen über ihren Werdegang und ihr Wirken als Psychologin.
Nach der Trauerfeier zeigten sich viele Teilnehmer von meiner Schilderung berührt und einige wünschten den Text zu bekommen. Darum stelle ich meinen Beitrag hier zur Verfügung.
Die von Annemarie mitbegründete Zeitung „Zeit-Fragen“ bat mich in der Folge um Zustellung des Manuskripts, verzichtete dann aber auf dessen Abdruck. „Ihre Rede ... enthält sehr viele persönliche Details und schien uns daher nicht für die Publikation in unserer Zeitung geeignet“ beschied man mir erst 5 Wochen später. In der Nummer 12 vom 11. Juni 2014 erschien unter dem Titel „Ein Leben für die Mitmenschlichkeit“ und „Zum Leben von Annemarie Buchholz – Kaiser von der Familie und engsten Freunden, gehalten am Abdankungsgottesdienst vom 31. Mai 2014 in Dussnang“ der leicht ergänzte Beitrag von meinen Nachrednern. Im Vorspann hiess es dazu: „Im folgenden veröffentlicht „Zeit-Fragen“ den leicht gekürzten Lebenslauf von Annemarie Buchholz-Kaiser, der von den Verwandten und engsten Freunden geschrieben und am Abdankungsgottesdienst vorgetragen wurde.“ Ich halte in aller Form fest, dass ich an diesem Lebeslauf nicht mitgearbeitet habe und dass mein Beitrag an der Trauerfeier in ihm in keiner Art und Weise enthalten ist. Es ist das gute Recht der Zeitung, auf meinen Beitrag zu verzichten. Dass ich aber, der als einziger „Verwandter“ in der Kirche gesprochen hat, als Mitverfasser der Fassung in den Zeit-Fragen der Öffentlichkeit präsentiert werde, ist eine grobe Geschichtsklittterung und eine Verletzung meiner Persönlichkeit. Ich empfehle sehr, zu Vergleichszwecken den Artikel der Zeit-Fragen zu lesen.
Im folgenden nun also mein Beitrag, wie ich ihn an der Trauerfeier vortrug.
Aus dem Leben von Annemarie Buchholz – Kaiser
Meine Schwester Annemarie wurde am 12. Oktober 1939 als zweites Kind unserer Eltern August und Anna Kaiser – Siegfried in Dussnang TG geboren. Zusammen mit ihren Brüdern, dem um zwei Jahre älteren August und dem um fünf Jahre jüngeren Willi, erlebte sie im Elternhaus eine glückliche, anregende und erlebnisreiche Kindheit. Um ihre Entwicklung besser zu verstehen, möchte ich ein paar Worte unseren Eltern widmen, deren Erziehungstätigkeit bekanntlich uns alle massgebend prägt.
Der Vater, als Kind einer einfachen Bauernfamilie auf dem Hackenberg, konnte als aufgeweckter Knabe die Sekundarschule in Dussnang besuchen und nachher in St. Gallen eine kaufmännische Lehre absolvieren. Er hatte seinen Vater früh verloren und kehrte auf Wunsch der Mutter, einer frommen und selbstbewussten Frau, als Bauer auf den Hackenberg zurück. Mit ihr zusammen bewirtschaftete er den Hof bis über ihren Tod hinaus während 18 Jahren. Er begann sich für die wirtschaftlichen Probleme der ärmlichen Landbevölkerung im Hinterthurgau zu interessieren. Obwohl er von Haus aus eher konservativ, bürgerlich gesinnt war und politisch der katholisch-konservativen Partei nahe stand ohne ihr anzugehören, beschäftigte er sich auch mit sehr progressiven Ideen, der Jungbauern-Bewegung um Hans Müller und der Freigeldtheorie von Silvio Gesell, Ideen aus dem Umfeld des libertären Sozialismus. Da geht es um die gerechte Verteilung von Geld und Boden, aber auch um die gegenseitige Hilfe, den genossenschaftlichen Gedanken der Selbsthilfe, das Dorf als Gemeinschaft. Natürlich waren diese Ideen dann auch in unserer Familie sehr lebendig und wurden auch für uns Kinder zum Thema. Er engagierte sich auch in verschiedenen Organisationen im Dorf, u.a. bei der Darlehenskasse Dussnang (der Raiffeisenbank) und der landwirtschaftlichen Genossenschaft, wo er verschiedene Ämter bekleidete. 1937 übernahm er die Stelle des Verwalters der Darlehenskasse; kurz davor heiratete er seine um 17 Jahre jüngere Frau.
Unsere Mutter wuchs in der „Mühle“ in Schurten auf, zu der ein Gasthaus, eine Bäckerei, ein Spezerei-Laden, ein landwirtschaftlicher Betrieb und eine Sägerei gehörten. Auch sie verlor früh ihren Vater, der seine Frau mit sechs kleinen Kindern zurückliess. Da mussten alle kräftig zupacken. Anna als älteste bemühte sich besonders um die jüngeren Geschwister. Daneben bemühte sie sich um ihre Weiterbildung, u. a. in Hauswirtschaft.
Nach der Heirat lebte das junge Paar und dann die Familie in der Dorfbank, zuerst in einem älteren Haus, dann ab 1947 im Neubau, den die Bank dank der zielstrebigen Aufbauarbeit ihres Kassiers sich nun leisten konnte. Dieser Aufbau wurde zum grossen Lebenswerk unseres Vaters, aber auch die Mutter leistete als seine Stellvertreterin einen wichtigen Beitrag. Dank ihrer Auffassungsgabe machte sie sich auch ohne Sekundarschulbildung schnell mit der Buchhaltung und dem Bankbetrieb vertraut.
Beide Eltern beteiligten sich aktiv am öffentlichen, kulturellen und sozialen Leben der Dorfgemeinschaft. Und sie verstanden es, in ihrem Haus für ihre Familie ein freundliches Klima zu schaffen, geprägt durch Geborgenheit, Austausch von Gedanken und Gefühlen und vielfältigen Anregungen: Musik und Literatur wurden gepflegt; oft waren interessante Menschen aus dem grossen Kontaktnetz der Eltern zu Gast. Dieses anregende Umfeld war für unsere Entwicklung sehr förderlich. Der Vater war ein aufmerksamer Zeitungsleser und aus seinen Kommentaren zu bestimmten Artikeln über politische und gesellschaftliche Themen ergaben sich oft lebhafte Diskussionen. Annemarie nahm interessiert daran teil und stellte gerne Fragen.
Es gab im Zusammenleben gelegentlich auch Konflikte und Auseinandersetzungen und der strenge Vater fühlte sich verpflichtet, uns bei schweren Ordnungsverstösse zu züchtigen. Das betraf meistens uns Knaben, aber auch Annemarie musste mit ansehen, wie es einem erging, der sich nicht unterordnete. Das hinterliess bei allen drei Kerben, die wir später aufarbeiten mussten.
Wir Kinder wurden aber auch kräftig gefordert und gefördert. Wir lernten früh, unseren Beitrag zu leisten in Haus, Garten, Wald und Bienenhaus. Dabei lernten wir viel über die Natur und die ökologischen Zusammenhänge. Die Eltern waren Anhänger des biologischen Garten- und Landbaus, wie er auch vom Gründer der Jungbauernbewegung Hans Müller entwickelt wurde. Auch unsere schulische und berufliche Entwicklung war ihnen ein wichtiges Anliegen. Der Vater zeigte deutlich seinen Stolz auf die Studienerfolge seiner Kinder. Beide Eltern bemühten sich sehr, uns kulturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenhänge zu erklären.
Annemarie besuchte in Dussnang zwei Jahre die Sekundarschule und danach die dritte Sekundarklasse im Institut Heilig Kreuz in Cham. Sie wäre dann gerne Ärztin oder Lehrerin geworden, was der Vater aber nicht bewilligte. So absolvierte sie zunächst ein Welschlandjahr als au pair bei einer Familie in Pully, um ihr Französisch weiter zu entwickeln.
Anschliessend machte sie beim Vater auf der Bank als erste Lehrtochter die kaufmännische Lehre. Das war keine einfache Zeit und setzte oft lebhafte Diskussionen ab. Sie lernte aber tüchtig und arbeitete zielstrebig, so dass sie den Lehrabschluss mit Auszeichnung bestand.
Wie weiter, war nun die Frage. Zunächst schaltete sie ein weiteres Zwischenjahr ein mit einem Sprachaufenthalt in England, den sie mit dem angesehenen Cambridge Proficiency Examen beschloss.
Dann trat sie in Zürich bei einer Bank eine Stelle an, wo sie ihre kaufmännischen Kenntnisse erweitern konnte. Durch die Vermittlung dieser Bank konnte sie auch bald eine günstige 2-Zimmerwohnung an der Turnerstrasse mieten, ganz in der Nähe der ETH, wo ich meinen Studien oblag. So konnte ich 1962 zu ihr ziehen und wir genossen diese gemeinsame Zeit. Wir hatten endlich ein sturmfreies Zuhause, konnten selber haushalten und Gäste empfangen, und vor allem auch den intensiven Gedankenaustausch unserer Jugendzeit fortsetzen. Später, 1964, gesellte sich auch Willi dazu und wir lebten eine Zeit lang zu dritt in der kleinen Wohnung.
Durch Edgar Giesa, einen Kollegen in ihrer Bank, war sie auf die psychologische Arbeit von Friedrich Liebling aufmerksam gemacht worden und hatte seine psychologische Beratungspraxis kennen gelernt. Nach einiger Zeit fand auch ich den Weg in die „Zürcher Schule für Psychotherapie“ (wie wir diese Praxis nannten), und für beide und bald auch für den Bruder Willi begann eine intensive Zeit des psychologischen Lernens und der persönlichen Entwicklung.
1961 hatte Annemarie die Bank verlassen und eine Halbtagesstelle als Sekretärin des VSETH (Verband der Studierenden an der ETH) angetreten, in dessen Vorstand ich damals tätig war. Damit verschaffte sie sich Zeit, um sich ihrem geplanten Studium zu widmen. Sie besuchte das Abendgymnasium des Instituts Juventus, legte 1964 die eidgenössische Maturitätsprüfung Typus B ab und begann an der Universität ihr Phil.-I-Studium in Allgemeiner Geschichte bei den Professoren Albertini, Beck und Meyer, Philosophie bei Prof. Keller und Psychologie bei Prof. von Uslar. Dabei befasste sie sich auch intensiv mit dem libertären Sozialismus, wovon eine Arbeit über James Guillaume, einem Schweizer Anarchisten aus dem Jura, und ihre Lizentiatsarbeit bei Prof. R. von Albertini: „Individuum und Gemeinschaft bei Pierre-Joseph Proudhon“ (1972) Zeugnis ablegen. Da wird die Beziehung zu den Ideen unseres Vaters aus der Jungbauern-Zeit spürbar, aber auch zu den zahlreichen Diskussionen in der Zürcher Schule zu diesem Thema.
Ihre akademischen Studien schloss Annemarie 1977 mit ihrer Doktorarbeit bei Prof. Wilhelm Keller ab mit dem Titel: „Das Gemeinschaftsgefühl bei Alfred Adler. Ein Vergleich mit Befunden aus Entwicklungspsychologie, Psychopathologie und Neopsychoanalyse.“ Im Gemeinschaftsgefühl, dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe, begegnen wir auch hier dem zentralen Gedanken im Leben von Annemarie.
Noch ein paar Bemerkungen zur Beziehung unter uns Geschwistern in der Jugendzeit. Ich empfand sie als durchaus freundschaftlich; es gab aber auch Streitgespräche über allerhand familiäre Probleme, über tages- und weltpolitische Themen, bei denen wir – manchmal mit dem Vater zusammen – um das letzte Wort kämpften. Annemarie und ich spielten und musizierten mit Blockflöten gelegentlich miteinander. In den Kontakten mit den Kindern im Dorfe gingen wir separate Wege. Ich trieb mich mit den Buben im Wald und am Bach herum. Annemarie entwickelte Aktivitäten in einer Gruppe von Mädchen, in der sie gerne Führungsverantwortung wahrnahm. Der deutlich jüngere „kleine“ Bruder war an diesen Aktivitäten nicht beteiligt; er hatte dann später seinen eigenen Kollegenkreis im Dorf. Dafür aber wurde er von Annemarie gerne bemuttert.
Als Halbwüchsige, im interessanteren Alter, hatten wir leider weniger Kontakt, da sich meine Laufbahn nach der Primarschule im Internat fortsetzte und ich von da an nur noch wenig zu Hause war. Doch in den Ferien wurden die Gespräche mit Annemarie „über Gott und die Welt“ zusehends lebhafter und interessanter. Wir schrieben einander auch hie und da Briefe, in denen Annemarie mich manchmal recht ausführlich über das Geschehen zu Hause oder ihr eigenes Tun informierte. Weltanschauung wurde zu einem wichtigen Thema, da ich noch im katholischen Internat begann, meinen Kinderglauben in freidenkerische Richtung zu verlassen. Annemarie interessierte sich sehr für diesen Prozess und zeigte viel Verständnis dafür.
Später an der Turnerstrasse in Zürich konnten wir dann einen sehr intensiven Gedankenaustausch pflegen. Wir konnten auch wunderbar streiten und entwickelten eine gute Streitkultur, die das Gegenüber herausfordert ohne zu verletzen. Ich schätzte den freundschaftlichen Gedankenaustausch mit meiner Schwester sehr und sie war für mich immer eine wichtige, gebildete, wache und vielseitig interessierte Gesprächspartnerin.
Für ihren Werdegang und ihre Tätigkeit in der Psychologie und psychotherapeutischen Praxis überlasse ich nun das Wort anderen, die sie in diesem Gebiet näher begleitet haben.
August Kaiser, 2014